Wer kennt nicht diese Memes bei Facebook, die für
Kinderschänder die Todesstrafe in irgendeiner Form fordern? Weil dass Monster
sind und sie das Schrecklichste getan haben. Weil sie es nicht verdient haben
zu leben, während ihre Opfer sterben mussten. Weil es einfach… richtig
ist, sie aus der Menschheit zu entfernen…
Uhm…
Ist es? Wirklich?
Ich habe dazu meine eigene Meinung. Und ich weiß nicht
erst seit heute, dass die sich in weiten Bereichen durchaus mit der von Dr.
Mark Benecke deckt. Aber ich habe es dennoch genossen, ihm mal wieder dabei zuzuhören,
wie er mir das bestätigt.
Wer mag, kann sich das hier ansehen:
Aber ich will mich auch selbst mal über die Thematik
auslassen, weil es mich nämlich ehrlich gesagt tierisch ankotzt, wie
selbstgerecht und bis oben hin voll mit ‚gerechtem Zorn‘ sich so einige
Menschen da draußen zu Richter aufschwingen und sich auch gleich anbieten, den
Henker zu mimen.
Zuallererst würde ich diesen Leuten am liebsten ein
Ticket für einen Logenplatz zu einer amerikanischen oder noch lieber einer
chinesischen Hinrichtung spendieren, damit sie aus der ersten Reihe mit ansehen
können, wie sich das, was sie da fordern, in der Realität darstellt.
Ich würde diese Menschen nur zu gerne dabei beobachten,
wie ihnen die Gesichtszüge entgleisen, wenn sie einen echten Menschen auf dem
Stuhl sehen, dem das Gift gespritzt wird und der elendig verreckt. Inklusive
spontaner Blasen- und Darmentleerung, Krämpfen und den letzten Todeszuckungen.
Dürfte diesen Leuten ja nicht viel ausmachen, einen
Schuldigen abkratzen zu sehen. Schließlich fordern sie ja auch genau das für
Missbrauchstäter.
Sicherlich kann ich ohne zu zögern sagen, dass ich die
Ohnmacht, Wut und auch den Hass von Eltern, die ein Kind durch Missbrauch und
Mord verloren haben, verstehen kann. Und ich verstehe auch den Wunsch nach
Rache. Oder wenigstens Gerechtigkeit.
Aber wir leben im 21ten Jahrhundert. Und wenn wir
weiterhin Rache leben würden, müssten wir jede Körperverletzung mit gleicher
Münze heimzahlen. Ob Unfall oder Vorsatz. Und wenn es um Eigentumsdelikte geht,
müsste ein Täter dafür büßen, indem er den Schaden ersetzt. Oder ihn vielleicht
abarbeitet, wenn er keinen Ersatz leisten kann.
Was natürlich dann auch alle Leute beträfe, die ihren Job
verlieren und einen Kredit nicht abzahlen können. Einfach in den Steinbruch mit
denen. Haben sie verdient.
Oder sind wir vielleicht doch bereit, uns als etwas
weiterentwickelt zu betrachten und anstatt der Rache eher an die Notwendigkeit
zum Schutz weiterer potentieller Opfer vor Übergriffen zu denken?
Das dürfte vielen wütenden Angehörigen zwar schwerfallen,
aber die Geschichte zeigt sehr deutlich, wo das Streben nach Rache hinführt.
Und bei allem Verständnis für den Wunsch danach will ich ehrlich gesagt keine
Strafvergewaltigungen für Vergewaltiger, weil schließlich nur das tatsächlich ‚gleiche
Münze‘ wäre.
Ich will sowas weder ausführen noch jemandem zur
Ausführung abverlangen, denn damit schaffe ich einen weiteren Vergewaltiger. Mache
den Henker zum Täter.
Und abgesehen davon funktioniert das einfach nicht, denn
wo soll das enden? Ein Tritt auf die Zehen wird mit einem Tritt auf den ganzen
Fuß geahndet, weil der Henker sich verschätzt. Die Gegenseite tritt gegen das
Bein, weil sie nun Anlass zur Rache findet. Der Betroffene findet das wiederum
unangemessen und schlägt mit einem Knüppel zu. Bei der Retourkutsche wird
daraus eine Eisenstange. Dann wird mit der Axt ein Bein abgetrennt und die
Antwort besteht in einer Pistolenkugel. Und alles wegen eines Fußtrittes.
Unglaubwürdig? Jeder, der schon einen nachbarschaftlichen
Gartenzaun-Streit miterlebt hat, kennt die bittere Realität und weiß, dass es
leider nicht unrealistisch ist.
Auge um Auge ist für den Arsch.
Aber bei Missbrauchstaten geht es nicht um Fußtritte oder
Gartenzäune, sondern um schreckliche Taten gegenüber wehrlosen Opfern, die ihr
Leben lang traumatisiert werden oder viel zu jung sterben. Weil jemand so
monströs ist, ihnen das anzutun.
Diese Leute nehmen einen ganz besonderen Platz als Täter
ein, weil sie wirklich Schreckliches tun. Sie sind gefährlich, und selbst wenn
Rache kein Thema ist, muss ihretwegen auf jeden Fall etwas unternommen werden.
Das ist auch meine Meinung. Und dabei rede ich gar nicht
mal von Strafe, sondern wirklich vom Schutz anderer Kinder oder Frauen vor
Kinderschändern und Vergewaltigern.
Aber… Weißte was…?
Wenn es um genau diesen Schutz geht, dann ist genau die
Beseitigung der Täter das Schlimmste, was man überhaupt tun kann. Denn nur in
den Köpfen der Täter findet man die Gründe für ihr Tun. Und nur, wenn man diese
Gründe versteht, kann man vielleicht verhindern, dass andere zu Tätern werden.
Denn - Überraschung - die wenigsten Menschen können auf
die Welt und sind so geschädigt im Kopf, dass sie auf jeden Fall zu Tätern
werden. Die meisten Täter wurden im Gegenteil mal als ziemlich normale Menschen
geboren. Und sie hätten vielleicht auch liebevolle Väter oder Mütter werden
können, anstatt Menschen umzubringen.
Was Dr. Mark sagt, höre ich nicht zum ersten Mal. Und es
leuchtet auch ein: Praktisch jeder Serien- oder Triebtäter hat eine Vorgeschichte.
Kinderschänder fallen nicht von Bäumen, sondern sind üblicherweise selbst
Gewaltopfer. Oftmals selbst einmal Opfer von Kinderschändern gewesen.
Ist das jetzt ein Apell an das Mitleid für das arme Hascherl,
dass vom Opfer zum Täter wurde?
Nein. Obwohl dieses Mitleid verdammt noch mal angebracht
wäre, denn du empfindest es auch für das heutige Opfer. Und wenn du die Runde
Mitleid gespendet hast, wendest du dich ab und schaust nicht mehr hin, wie
dieser Mensch aufgrund seins Traumas vielleicht langsam zum Täter heranwächst.
Aber eigentlich geht es mir nicht darum.
Es geht um Verständnis im Sinne von Verstehen. Um das
Erkennen der Gründe und der schlecht verdrahteten Synapsen, die einen Menschen
zum Täter werden lassen. Und darum, die Warnsignale zu identifizieren, an denen
man so einen Menschen schon vor der Tat erkennen kann.
Und diese Erkenntnisse liegen vor. Aber sie werden von
den Befürwortern der Todesstrafe für Kinderschänder natürlich gepflegt
ignoriert, weil es Arbeit bedeuten würde, etwas mit ihnen anzufangen. Und mehr
Arbeit als einen Abzug zu betätigen ist ganz schön viel verlangt, nicht wahr…?
Das Ding ist… Jeder kennt einen potentiellen, zukünftigen
Täter. Diese Menschen sind nämlich keine Monster, die völlig anders sind als
andere Menschen. Sie mögen oft bestimmte Abweichungen im Hirn aufweisen. Aber
das allein macht sie noch nicht zu Mördern oder Vergewaltigern.
Wächst so ein potentieller Täter auf eine normale Weise
auf, ist er vielleicht ein wenig anders als der Durchschnitt, aber keine Gefahr
für irgendwen. Er kann ein völlig normales Leben führen.
Wächst so jemand allerdings umgeben von familiärer Gewalt
und gesellschaftlicher Ablehnung auf, sieht die Sache schon anders aus.
Die Triebtäter, Kinderschänder und Serienmörder waren
einmal Kinder, denen psychische und/oder körperliche Gewalt angetan wurde. Und
zwar meistens von Angehörigen. So wie es in jedem sogenannten sozialen
Brennpunkt jede Minute hundertfach geschieht. Ohne dass jemand eingreift. Auch
wenn viele davon wissen.
Kinder werden geprügelt, misshandelt und mit Hass
anstelle von Liebe gefüttert. Jeder Mensch kennt ein Beispiel dafür. Es sind
nämlich verflucht viele Betroffene da draußen. Überall.
Und anstelle von Hilfe bekommen sie oft noch zusätzliche
Arschtritte, weil sie asozial sind. Weil man sie nicht bei sich haben will.
Nicht möchte, dass sie mit den eigenen Kids spielen. Weil man sich abgrenzen
will von diesem… Pack.
Und damit hast auch du vielleicht schon mehr als einmal
dazu beigetragen, dass jemand, den du jetzt als Assi-Kind kennst, eines Tages
einer Frau Gewalt antun, en Kind missbrauchen oder einen anderen Menschen töten
wird.
Herzlichen Glückwunsch…
Gewalttäter fallen nicht vom Himmel. Und sie kriechen
auch nicht aus den Bäuchen von Töchtern Satans, um die Welt zu vernichten. Sie fangen
als Menschen mit etwa den gleichen Chancen wie du oder ich an. Und dann geht
etwas schief. Und zwar fürchterlich schief.
Viele weisen ungewöhnliche Hirnstrukturen auf, die
begünstigen, wo die Entwicklung hinführt. Aber einige sind wirklich völlig
normal veranlagt und einfach nur durch die Hölle gegangen. Ein dutzend Mal pro
Jahr für ein Dutzend Jahre. Oder noch weitaus mehr.
Aber jetzt, wo sie schließlich aus Verzweiflung, Hass
oder Angst letztendlich ausgerastet sind, finden sich natürlich viele Leute,
die anklagend mit dem Finger zeigen.
Wie oft lese oder höre ich von Justizskandalen, wenn ein
bekannter Pädophiler nicht verhaftet wurde. Wie oft wird der Polizei oder dem
Staat vorgeworfen, dass sie versagt hätten.
Aber niemand zeigt mit dem Finger auf die braven Bürger,
die mit geschlossenen Augen an jedem Hinweis auf häusliche Gewalt und die
weniger offensichtlichen - oder noch schlimmer: die gesellschaftlich fast noch
anerkannten - Formen von Misshandlung vorbeigegangen sind.
Dabei sind es diese Lete, die versagt haben. Sie haben
die Chance vertan, einem Menschen zu helfen. Und sie haben deswegen zwei Wesen
auf dem Gewissen. Das heutige Opfer und den Täter von heute, der damals Opfer
war und dem nicht geholfen wurde.
Das ist um keinen Deut besser als Fahrerflucht bei einem
Verkehrsunfall. Aber das interessiert kein Schwein…
Lieber werden diese Leute als Monster betrachtet und man
redet sich ein, dass sie anders sind. Dass man selbst nicht so ist und niemals
so sein könnte.
Was auf eine sehr groteske Weise lustig ist, denn ich
sehe die Leute, die mit den Forderungen nach Kopfschüssen für Kinderschänder um
die Ecke kommen, vor meinem geistigen Auge immer wie einen Lynchmob aus einem
B-Movie. Mit der gleichen Mordlust im Blick, wie bei dem Menschen, den sie
hinrichten wollen. Und mit der gleichen, perversen Befriedigung auf den Gesichtern,
wie sie ein wirklich gestörter Psychopath vielleicht nach seiner Tat empfindet.
Und das ist es auch, was ich letztlich an der ganzen Rache-Sache
so erschreckend und gefährlich finde:
Sie hat das Potential, aus den Opfern und deren
Angehörigen Täter werden zu lassen. Ganz besonders, wenn die Mittel der Rache
auch noch von Staat und Gesellschaft abgesegnet werden. Und sei es
stillschweigend.
Jedes Opfer trägt die Saat für zünftige Täterschaft in
sich. Und diese Leute brauchen Hilfe und oftmals auch Therapie. Sie brauchen
alles möglich, aber keine Rache. Denn die Rache ist der perfekte Dünger für den
Hass, der sich zuerst nur gegen den eigentlichen Täter richtet. Und dann gegen
Leute wie ihn. Und irgendwann vielleicht gegen Leute, sie ihm auch nur entfernt
zu ähneln scheinen. Beispielsweise, weil sie sein Geschlecht
haben…
Ich hoffe, dem einen der anderen springt der Kreis ins
Auge, der sich bei diesem Thema immer wieder schließt.
Was wirklich gegen Missbrauchstaten getan werden kann,
hat nichts mit Rache oder Gerechtigkeit zu tun, sondern mit Vorbeugung und
Prävention. Und zwar weit im Vorfeld.
Vielleicht hätte ein einziger aufmerksamer Nachbar des
Entführers von Natascha Kampusch in dessen Kindheit das Leid dieser Frau
verhindern können. Durch Eingreifen, als das Leiden dieser Person seinen Anfang
nahm. Als es noch nicht zu spät war, den eingeschlagenen Kurs des zukünftigen
Täters mit professioneller Hilfe zu ändern.
In meinen Augen wäre das tausend Mal befriedigender, als
nun einen Toten und ein lebenslang traumatisiertes Opfer zu haben, das niemals
vergessen wird, was ihr geschehen ist.
Was unsere Welt wirklich braucht, ist nicht weniger Verständnis
und Mitgefühl und härtere Strafen für die Täter. Wir brauchen mehr Mitgefühl
für alle Menschen. Und mehr Bereitschaft, für die Hilflosen in die Bresche zu
springen. Mehr Hinsehen und weniger Wegsehen. Weil das Wegsehen eine Form von
Mittäterschaft ist.
Prävention von Missbrauch und Gewalt beginnt bei
niemandem anderen als bei dir.
Wenn du hinsiehst und eingreifst, wenn du jemanden leiden
siehst - und sei es auch nur, indem du professionelle Hilfe anforderst und auf
das Leiden hinweist - dann kann dem Leidenden jetzt geholfen werden und es gibt
vielleicht einen zukünftigen Täter weniger. Wofür dir dessen potentielle Opfer
niemals ihren Dank aussprechen werden, weil ihnen niemals ich schreckliches
Schicksal widerfährt.
Aber ist das nicht viel großartiger, als eines Tages in
der Zeitung den Namen eines Mörders zu lesen, den du als Kind kanntest? Und dich
womöglich zu erinnern, dass du ihn nachts schreien gehört hast? Dir bewusst zu
werden, dass du damit eine Mitschuld tragen könntest am Schicksal des Opfers?
Denk mal drüber nach.
Oder - und ich weiß genau, dass diese Option leider viel
zu viele ergreifen werden - steck deinen Kopf wieder in den Sand, ignoriere
deine Mitmenschen und deren Leid, fordere weiter Todesstrafen und sei weiter
ein schuldiges Arschloch.
Und bitte… Wer sich bei diesem letzten Satz jetzt
persönlich angesprochen und damit angegriffen fühlen möchte, der wird gute
Gründe haben, sich diesen Schuh anzuziehen. Weswegen ich das genau so
verstanden wissen will, wenn du es so verstehen willst, du Haufen Scheiße.
In diesem Sinne…
Nichts zu danken, potentielles Opfer einer niemals
Realität werdenden Zukunft, dessen potentieller Täter aufgrund meiner Worte, an
die sich ein x-beliebiger Mensch im richtigen Moment erinnert hat, die richtige
Hilfe erhielt und daher niemals jemandem etwas antat.