Samstag, 21. Februar 2015

Ranting about - Opferhass

Nehmen wir mal an, ich würde die Behauptung aufstellen, dass ein junges Mädchen beschlossen habe, von zu Hause wegzulaufen und ein neues Leben mit ihrem Lover anzufangen. Bis hierhin vielleicht eine Geschichte, wie sie gar nicht so selten passiert, nicht wahr?
Fügen wir dem Ganzen noch die Info hinzu, dass die Kleine zehn Jahre alt ist, und betrachten es erneut. Ich nehme doch mal stark an, dass spätestens jetzt überwiegend Unglaube die Gesichter ziert. Ich würde jedenfalls mit mindestens sieben gleichzeitig hochgezogenen Augenbrauen auf so ein Szenario reagieren. Andere behaupten aber faktisch nichts anderes als das.

Wer auf Zack ist, denkt jetzt bereits an Natascha Kampusch - und ist goldrichtig. Ich habe gerade ihr Buch gelesen und jetzt muss ich über das Drumherum um diesen sogenannten Fall ein paar Worte loswerden. Gleich, nachdem ich meine Tränen getrocknet habe - und das ist kein blöder Witz, denn einiges in dem Buch hat mich nicht nur fürchterlich erschüttert, sondern auch zu Tränen gerührt.
Nicht die Umstände der Entführung, wohlgemerkt. Darauf war ich durchaus vorbereitet, als ich dieses Buch - 3096 Tage - zur Hand nahm. Auch wenn mich die schieren Zahlen der Gewaltanwendungen, von denen es berichtet, ganz schon geschockt haben. Aber was mich wirklich betroffen gemacht hat, war der kleine Blick auf das Nachspiel und auch die Ablehnung, die einem abgemagerten, achtzehnjährigen Mädchen entgegenschlug, das auf der Straße Leute darum bat, für sie die Polizei zu rufen. Wieder einmal Gründe, sich für die Zugehörigkeit zur menschlichen Spezies gehörig zu schämen.
Aber das soll gar nicht mal mein Thema sein. Mir geht es um das, was kürzlich mit dem Erscheinen des Films zum Fall wieder einmal hochkochte und was ich nur Opferhass nennen kann.

Googelt man ‚Natascha Kampusch heute’, stolpert man an dritter Stelle über einen Link, unter dem sich ein offenbar selbsternannter Investigativ-Journalist darüber auslässt, wieso die Schilderungen von Natascha offensichtlich lückenhaft und vor allem zweifelhaft sein müssen.
Da ist zum Beispiel die Rede davon, dass die Mutter des Täters von ihrem Sohn behauptet, er könne einem Mädchen niemals etwas angetan haben. Und wir alle wissen ja, wie hieb- und stichfest so eine Aussage ist. Auch davon, dass Natascha selbst sexuelle Kontakte nicht als Vergewaltigung bezeichnen wollte, ist da die Rede. Aber nicht etwa davon, was sie selbst dazu sagt.
Aber hey… Wenigstens wird nicht zu offensichtlich in Frage gestellt, dass sie tatsächlich entführt wurde. Glaube ich jedenfalls, denn ganz gelesen habe ich den riesigen Haufen Fledermausscheiße nicht. Das hat mir Kopfschmerzen und Übelkeit bereitet.

Ich will hier jetzt gar keine Verschwörungstheorien aufgreifen. Stattdessen gehe ich lieber mit ganz banaler Logik und einem gewissen Hintergrundwissen aus dem Bereich Psychologie an die Sache heran und bin mir sicher, dass mir namhafte Psychologen dahingehend nicht widersprechen würden:
Eine Zehnjährige wird entführt. Sie wird über acht Jahre lang gefangen gehalten und befindet sich völlig in der Hand ihres Entführers, der an ihr seine Allmachtsphantasien abreagiert. Es ist völlig logisch, dass sich eine Beziehung zwischen Opfer und Täter entwickelt und Natascha schildert genau das in ihrem Buch.
Interessanterweise finde ich übrigens hier und da sehr auffällige Parallelen zwischen einigen ihrer Gendanken und denen einer Frau namens Debbie Moore - sie schrieb ein Buch mit dem Titel ‚Ich war ein Opfer des Dead Man Walking‘ und es geht um ihre Bewältigung einer Vergewaltigung. Ich bin kein Psychologe, aber es erscheint mir ziemlich logisch, dass sich hier Übereinstimmungen entdecken lassen, denn Missbrauch und Machtlosigkeit sind in beiden Fällen ein zentrales Thema.
Aber zurück zu Natascha Kampusch. Sie war zehn - Z-E-H-N - Jahre alt. Sie ist nicht weggelaufen, um mit ihrem Lover ein neues Leben anzufangen. Sie wurde entführt und war einem paranoiden, vermutlich narzisstischen, vermutlich reichlich psychopathischen Mann für über acht Jahre ausgeliefert. Sie beschreibt selbst, wie und wieso sie eine Beziehung zu ihm aufbauen musste und konnte, die nicht nur auf Hass basierte - zum Überleben.
Wie es ein österreichischer Gerichts-Psychologe ausdrückte, den ich hier mit meinen eigenen Worten zitiere: Natürlich gab es sexuelle Kontakte. Der Täter wollte eine ‚perfekte Sklavin‘ und die Beziehung hätte enger nicht sein können, was nichts über Freiwilligkeit aussagt. Die Parallelen zu häuslicher Gewalt sind so überwältigend unübersehbar, dass ich jeden, der sie nicht erkennt, nur als Idioten bezeichnen kann. Und auch in solchen Fällen gibt es Sex und es besteht ein Anschein von oberflächlicher Freiwilligkeit.

Was ich bei dieser ganzen Sache sehe ist tatsächlich das, was wiederum Natascha in ihrem Buch beschreibt: Die Leute können nicht damit umgehen, dass sie den Täter nicht verteufelt. Sie können nicht begreifen, dass sie sechzehn- oder siebzehnjährige Natascha Möglichkeiten nicht voll ausgenutzt hat, die ihr zur Flucht hätten verhelfen können.
Warum? Weil sie Angst haben, es könnte ihnen ebenso ergehen. Weil sie für ihre anscheinend so heile Welt eine strikte Trennung zwischen Gut und Böse brauchen. Und weil ein Opfer, das die ganzen Wegseher und Ignoranten, aus denen unsere Gesellschaft besteht, mit der Nase in ihre halbabsichtliche Blindheit stößt, unbequem ist.

Mir ganz persönlich machte im ganzen Buch eine bestimmte Stelle am meisten zu schaffen - und die veranschaulicht ganz gut, wovon ich spreche:
Die zu der Zeit sechzehn- oder siebzehnjährige Natascha wird zum ersten Mal von ihrem Entführer in einen Baumarkt mitgenommen. Zu der Zeit ist sie bereits so fest in seinem Griff, dass sie völlig eingeschüchtert ist. Aber selbst wenn sie es nicht wäre, müsste sie schon aus aller Kraft um Hilfe schreien, um jemanden auf sich aufmerksam zu machen, weil die Leute sie und den unauffälligen Mann hinter ihr einfach ignorieren. Sie ist nur ein möglicherweise zu dürrer, möglicherweise zu schüchterner Teenager, aber das… geht sicherlich niemanden was an. Ein Verkäufer, der fragt, ob er irgendwie behilflich sein kann, widmet ihr kaum eine Sekunde Aufmerksamkeit. Und da ist er nicht der Einzige…
Mich schockiert daran, dass ich vielleicht in meinem Leben schon an Menschen vorbeiging, die verzweifelt auf Hilfe hofften aber nicht fähig waren sie zu erbitten. Vielleicht habe ich schon einmal nicht in dem Moment hingesehen, wo jemand völlig verzweifelt den Blick schweifen ließ und Augen um Hilfe flehten. Vielleicht hätte ich schon einmal jemanden aus einem solchen Martyrium retten können, habe es aber nicht bemerkt.
Und was denkst du dabei? Gehörst du zu denen, die froh sind, wenn sie in sowas nicht reingezogen werden? Schaust du deine Mitmenschen an und bist der Möglichkeit gegenüber offen, dass sie deine Hilfe benötigen könnten?

Ich kenne die Antwort, die fast jeder sofort geben würde: Klar doch! Aber wo sind all die ‚Klar dochs‘, wenn ein Kind im Supermarkt von seinen Eltern zusammengeschissen wird?
Ah, ich weiß schon. Die mischen sich nicht ein, weil dann vielleicht das Kind noch mehr Ärger bekäme, wenn es erst einmal daheim ist. Und weil sie nicht wüssten, was sie genau tun sollten…
Dazu kann ich nur sagen: Fuck you too!

Ch habe mit Leuten, die ich für durchaus vernünftig halte, genau über solche Dinge diskutiert. Und ich weiß selbst nie genau im Voraus, was ich tun soll, wenn ich mit dieser gesellschaftlich akzeptierten Form von Missbrauch konfrontiert wäre. Aber untätig bleibe ich ganz sicher nicht.
Mag sein, dass ein Kind oder eine Frau unter der Fuchtel eines aggressiven Mannes oder auch ein Mann unter der Fuchtel einer aggressiven Frau zu Hause noch mehr Ärger bekommt, wenn ich mich einmische. Aber wenn es nicht meine Einmischung ist, dann kriegt das Opfer vielleicht Prügel, weil das Wetter scheiße ist. Irgendein Anlass findet sich bei Gewalt und Missbrauch sowieso immer.
Ändern kann ich es nur, wenn ich eingreife. Wahrscheinlich kann ich kaum helfen, aber vielleicht ja doch. Vielleicht biete ich ein einziges Mal einem Menschen, der seit Jahren in einem psychischen Gefängnis eingesperrt ist, einen Ausweg, indem ich einschreite. Dafür würde ich sogar Prügel in kauf nehmen, dafuq!

Und wenn dem dann so wäre und ich helfen könnte, denn würde ich wohl dem erst einmal befreiten Opfer auch noch weiter meine Hilfe anbieten. Und sei es nur, weil Opfer in unserer Gesellschaft unerwünscht sind. Eine Runde Mitleid und dann muss gut sein. Wenn sie zu anstrengend werden, überschüttet man sie lieber mit Ablehnung.
Ich hab schon gelegentlich darüber geschrieben, dass sowas durchaus zur Schaffung neuer Täter führen kann. Hier will ich nur hinzufügen, dass ich mich nicht abwende, wenn jemand meine Hilfe wirklich will. Ich gebe lediglich dann auf, wenn jemand nicht bereit ist, sich helfen zu lassen und von seinem Recht auf Selbstbestimmung als Erwachsener Gebrauch macht, denn dann bin ich machtlos, egal wie deutlich ein Missbrauch auch sein mag.

Das ändert aber nichts daran, dass ich im Grunde den Menschen, die Täter als pure Teufel darstellen und Opfern das Maul verbieten, mit Verachtung begegne. Diese Leute sind schlimmer als Missbrauchstäter, denn so ein Täter ist immer auch ein Mensch mit einer Vorgeschichte, deren einzelne Elemente ihn so sehr verformt haben, dass er zum Täter wurde. Täter sind in gewisser Weise krank und manchmal sogar hilflos ihren Impulsen gegenüber.
Aber welche Ausrede haben die ‚Normalen‘ für ihre Ignoranz? Sie sind Mittäter durch Wegsehen und Zulassen. Sie sind die Gaffer bei Autounfällen, die den Rettern den Weg versperren. Sie sind Aasgeier und eben aufgrund ihrer Normalität immer dann mitschuldig, wenn sie nicht hingesehen haben, als etwas geschah.
Und leider… leider, leider sind sie in der Überzahl.

Natascha Kampusch hat Achtung verdient. Debbie Moore hat Achtung verdient. Steffi, deren weiteren Namen ich hier nicht nenne, die ich aber mal sehr, sehr gut kannte, hat Achtung verdient.
Sie waren alle Opfer, aber sie haben überlebt. Sie tragen Narben, aber sie stehen noch. Und sie werden niemals - niemals - wegsehen, wenn anderen etwas angetan wird. Sie wissen, wie sich das anfühlt. Sie werden helfen.
Was haben die Kritiker einer Natascha Kampusch hingegen vorzuweisen? Was soll der Scheiß überhaupt, in ihrer Geschichte nach möglichen Lücken zu suchen? Hat die Frau nicht genug durchgemacht?

Ist ihr Buch die absolute Wahrheit? Ganz bestimmt nicht. Es gibt nämlich keine absolute Wahrheit und ich würde nie von einer Erwachsenen erwarten, mir minutiös und absolut wahrheitsgetreu ihre Erlebnisse als Zehnjährige wiederzugeben.
Aber ich muss nicht erst ihr erstes Interview nach ihrer Selbstbefreiung sehen, um ihr zu glauben, was sie berichtet. Es gibt keinen Zweifel daran, dass sie gefangen gehalten wurde. Und sie hat getan, was nötig war, um das zu überleben. Einschließlich zu lernen mit dem Täter auszukommen.
Aber sie hat nicht aufgegeben und ist schließlich entkommen. Dafür verdient die Frau nen verdammten Orden und keine Anfeindungen oder Verschwörungstheorien.

Ist ihre Geschichte insgesamt glaubwürdig?
Unsere Welt wäre wohl ziemlich am Arsch, wenn man bei einer achtjährigen Entführung nur noch mit den Schultern zucken würde, weil es so gewöhnlich ist.
Als Geschichtenschreiber weiß ich so einiges über Glaubwürdigkeit. Beispielsweise, dass ich in Geschichten niemals die blanke Wahrheit verwenden kann, weil die keiner glaubt. Die Wahrheit ist immer am wenigsten glaubwürdig. Vor allem, wenn sie unbequem ist.
Und die Wahrheit ist, dass so ein Wolfgang Priklopil in sehr vielen von uns steckt. Jeder von uns kennt einen, der vielleicht nur ein oder zwei Tiefschläge des Lebens davon entfernt ist, so einer zu werden. Manche von uns werden genau das tun, auch wenn sie es nicht wahrhaben wollen. Andere kriegen haarscharf die Kurve.

Wir sind keine sehr liebenswerte Spezies. Aber wir haben ein Gehirn das uns befähigt, uns solchen Impulsen zu widersetzen, wenn es uns auch erst befähigt,uns solche Grausamkeiten auszudenken. Die Wahl liegt bei jedem selbst. Und damit ist nicht nur die Entscheidung über das eigene Schicksal gemeint, sondern auch darüber, auf andere offenen Auges zuzugehen und helfende Hände anstelle von Tiefschlägen zu verteilen.
Wäre der überwiegende Teil der Menschheit nicht so ignorant und egoistisch, hätten wir nämlich viel weniger Gewalttaten. Nicht das Böse in den Tätern allein ist dafür verantwortlich, sondern auch die Kälte, mit der wir generell Außenseitern und Sonderlingen begegnen und durch die wir sie zusätzlich ausgrenzen und in noch tiefere Verzweiflung stürzen.
Bis sie schließlich durchdrehen und am Ende einer weint - der dann auch wieder ignoriert wird.


So. Das war vielleicht etwas unzusammenhängend und eher ein Rant, also mache ich auch einen daraus.
Und vielleicht bringt es ja jemanden zum Nachdenken.

Im diesem Sinne…

…heute schon die Nachbarn die Kindern oder die Partner anbrüllen gehört? Oder kommen da nur Prügelgeräusche?

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